Nun bin ich frei im Garten meiner Gedanken

Rezension von Ulrich Bergmann
Hıdır Eren Çelik, Nomaden. Gedichte. Free Pen Verlag, Bonn 2012
„Irgendwie sind wir alle Nomaden auf dieser Welt …“, sagt Hıdır Eren Çelik in seinem Titelgedicht (S. 16), und ich fühlte mich sofort zu Hause in diesem Gedanken, als ich die Gedichte las. Mir ist das Rheinland wie Hıdır Eren Çelik zur Heimat geworden, als meine Großeltern mich vor über einem halben Jahrhundert mitnahmen auf ihrer Flucht aus der Unfreiheit der DDR in die relative Freiheit Westdeutschlands. Natürlich erlebte Çelik seine Suche nach Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität viel bewusster und intensiver als ich, und umso tätiger wurde er, die gewonnene Freiheit zu verteidigen und andere bedrängte oder heimatlos gewordene Menschen zu ermutigen. Das zeigt sein Gedicht „Kleiner Schmetterling“ (S. 11) sehr klar:
Als ein kleiner Schmetterling
auf der Flucht suchte ich das Sonnenlicht
irrte
hin und her
flatterte ich über die Grenzen
um frei zu sein
Als ein kleiner Schmetterling
holte ich mir die Freiheit
das Feuer und das Licht
Die kleinste Kraft ist wichtig und kann viel bewirken. Das Gedicht hat für mich einen heimlichen Bezug zur Chaostheorie: Wenn der Einzelne das Licht der Wahrheit für sich entzündet, dann wird er fähig, für die Freiheit aller zu kämpfen – und die politischen Flügelschläge des Schmetterling-Prometheus, der er nun ist, erzeugen, wenn sich viele solidarisieren, einen Tsunami der Freiheit gegen die Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit.
Auch die Poesie ist ein Mittel der politischen Arbeit. Ich glaube, dass Celik Politik und Poesie in eins setzen will:
Poesie
ist das Wasser das meinen Durst stillt […]
ist die Vielfalt der Gedanken die dich träumen lassen […]
ein Schrei nach Gerechtigkeit […]
ist der Tod ein Abschied aus dieser Welt […]
ist die Sonne und der Mond ein Himmel voller Sterne […]
ist Nichts und Alles
[Poesie, S. 17f.]
In den Versen sehen wir die Vielfalt der Bedeutungen und erkennen die Idee des Hauses der Vielfalt in der Brüdergasse – was für eine schöne Adresse! –, die Idee der Menschlichkeit, deren Fundament die Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit ist, die Sehnsucht nach Glück, die Hoffnung auf Frieden und soziale Fortschritte. Die Freiheit ist das Fundament der Fundamente. Die wünscht sich Hıdır Eren Çelik auch in unserem Land, das zu einem Einwanderungsland geworden ist, in einem noch größeren Maße:
Unter dem Himmel Deutschlands
sehne ich mich nach Sternen […]
Sterne funkeln unsere Hoffnung in die Ferne des Universums
in der dunklen Finsternis des Himmels Deutschlands
Die Flamme der Würde, ein Mensch zu sein
wird nie erlöschen im Meer der Dunkelheit […]
(Sterne, die Flammen der Würde, S. 23f.)
In einem anderen Gedicht nennt Hıdır Eren Çelik das Rheinland seine neue Heimat, die auch zur Heimat vieler Migranten geworden ist. Mit der Kraft der Tanzmarie, die er als eine lebensbejahende Tänzerin der Freiheit begreift, verbindet er die Gefühle der politisch und sozial Bedrohten, derer, die Angst haben, abgeschoben zu werden, der Hoffenden und Träumenden:
Tanzmarie, tanz …
wie ein Vogel am Himmel
Tanzmarie, tanz …
niste in Zweigen der Bäume in unserem Garten
Tanzmarie, tanz …
bis zur Morgendämmerung am Rhein
Tanzmarie, tanz …
wie Flammenwogen in den Himmel hinein
Tanzmarie, tanz …
du wurdest als ein Senfkorn in die Erde am Rhein gesteckt
Tanzmarie, tanz …
mit den verborgenen Geheimnissen deiner Träume
tanz mit uns am Rhein um deine Zukunft
Tanzmarie, tanz …
vor deiner schweigenden Angst auf der Insel unser Seele …
[…]
Tanzmarie, tanz …
deine Augen verraten mir die Angst vor der Abschiebung
Tanzmarie, tanz …
wehe wie ein Wind am Rhein
Tanzmarie, tanz …
streichele unsere Seele
damit wir auch deine Angst erkennen
vor der Abschiebung
Tanzmarie, tanz …
in deiner Heimat am Rhein
du bist eine von uns
[Tanzmarie, S. 25f.]

Die Entscheidung des Einzelnen muss mit der Solidarisierung einhergehen. Die politische Arbeit soll sich verbrüdern und verschwistern mit der Inspiration der Poesie, mit der Anmut und Kraft tanzender Derwische (Augenblicke, S. 36f.).
Çelik blickt zurück auf die paradiesische Zeit der Unschuld: „Als wir Kinder waren, / waren wir die Könige der Freiheit …“ (S. 58). Aber dann folgte die Zeit der Schuld, die notwendig wurde auf der Suche nach der erwachsenen Freiheit. Hier steht die Erinnerung an die politische Gefangenschaft des Bruders (Besuch, S. 81):
Heute ist der Tag des Besuchs
seit gestern Nacht habe ich meine Augen
an das Eisengitter gehängt …
Die Poesie tröstet im Leid. Sie beseelt und bestärkt im langwierigen Kampf um Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Vielfalt. Die vielleicht schönsten Gedichte malen Bilder der Landschaft, aus der Hıdır Eren Çelik stammt, und projizieren sie auf die Landschaft seiner Seele:
Durchgemischt
werden die Samen im Sonnenwind verstreut
das Frühjahr
wird an den überschwemmten Ufern der Flüsse empfangen
Munzur
Euphrat
Tigris
Es ist die sehnsuchtsvolle Liebe
die sich in euren Strömungen befruchtet
Die Erde wurde geschwängert von der Sonne
in den Augen von Kindern sitzt die Hoffnung
wie eine Kugel
Es sind die Frühlingsblumen die in den Haaren der Kinder
knospend knospend verblühen
Schwarz
Weiß
Gelb
in euren roten Häuten
wie ein Rosenbund teilt Ihr brüderlich das Brot
denn die Zukunft gehört euch
[Die Zukunft gehört euch, April 1988. S. 87]
Munzur, Euphrat und Tigris sind Flüsse im kurdischen Land. Hıdır Eren Çelik ist dort geboren, er ist Dersimer, er ist Kurde, er ist Türke, er ist Rheinländer, Europäer, Weltbürger. Er sagt in allen seinen Gedichten: Ich bin ein Mensch wie alle anderen auch. Zum Menschsein gehören Vernunft und Freiheit.
In seinem Gedicht „Hakkari“ (S. 29-31), das in diesem Sommer entstand, zeigt Hıdır Eren Çelik erneut, dass es zunächst auf den Einzelnen ankommt, und dass er Hakkari, sein Heimatland im Osten der Türkei, überall wiederfindet, wenn es der Garten seiner Gedanken sein kann, ein Garten der bestmöglichen Freiheit. Hier wachsen Gedichte wie feingliedrige Pflanzen, bunte Blumen, deren Farben einen feinen Ton haben, nicht aufdringlich, aber fordernd in der unsichtbaren Rüstung der Poesie …
[…]
wo die Berge den Himmel küssen;
ich bin Gefangener meiner Seele, ziehe mich zurück
in die Stille der Nacht, um frei zu sein.
Mit dem Sonnenaufgang werde ich frei,
höre zwischen den tiefen Tälern
den rauschenden Fluss Zap.
Wenn die Zeit kommt,
werde ich fliegen wie die zwitschernden Vögel
in die Freiheit über die Grenzen hinaus,
breche die Mauern der Gefängnisse,
die für die Menschen errichtet wurden.
Nun bin ich frei im Garten meiner Gedanken.
21.8.2012
Hıdır Eren Çelik, Nomaden
Gedichte
Free Pen Verlag, Bonn 2012
102 S., Klappenbroschur
ISBN 978-3-938114-76-2
€ 9.90

(Veröffentlicht am 19.09.2012 auf www.migrapolis-deutschland.de)