24.04.1915 – 24.04.2015
von Hıdır Çelik
Ein Jahrhundert ist vergangen. Es vergeht kein Tag, an dem die Schmerzen und die Errinerungen an den Verbrechen an Menschlichkeit uns nicht begleiten. In einem Land, in dem ein Verbrechen an etwa 1,5 Millionen Menschen begangen wurde, wird immer noch gestritten, ob dies geschah oder nicht. Die Verleugnung der Geschehnisse spaltet die Gesellschaft in der Türkei. Die Türkei als Staat ist herausgefordert, die schweigenden Mauern zu zerreißen, um sich mit der Geschichte zu versöhnen. Es ist an der Zeit, die Verbrechen an den Armeniern anzuerkennen. Denn unsere Kinder brauchen eine Zukunft, in der wir gemeinsam wieder die Lieder der Brüderlichkeit singen. Aus diesem Anlass ein Ausschnitt aus meinem Buch „Der Fluss meiner Träüme. Die Lebensreise eines Wanderers.“ (Free Pen Verlag,Bonn 2008), der auf das Thema einen Blick wirft.
„In seinem Traum hört er die ohrentäubenden Schreie der Kinder aus der Kirche, sieht die brennenden Häuser und ermordete, verbrannte Leichen am Bach. Die Kinder, die mit ihren Müttern in der Kirche Schutz suchten, werden bei lebendigem Leibe in der Kirche verbrannt. Eine Frau versucht trotz ihres brennenden Körpers, einige Kinder aus der Kirche zu retten. Sie schafft es nicht, den von der Kirche etwa hundert Meter entfernt liegenden Bach zu erreichen. Sie fällt zu Boden, und das Kind in ihren Armen gibt einen Schrei von sich. Der Schrei erschreckt die seit Tagen im Delta sich von Menschenfleisch sättigenden Geier so sehr, dass sie aufhören, die Leichen zu fressen und fortfliegen. Aber sie kreisen weiter in den Lüften über den am Boden liegenden Leichen. Eines der Kinder kehrt zurück, holt das schreiende Kind und verschwindet mit anderen Kindern im nahe stehenden Busch.
Der Wanderer weint, und die Erde weint mit ihm. Der Bach wird zu einem großen Fluss, durch den wochenlang nur noch Blut fließen wird. Der Wanderer wacht erschreckt von der Grausamkeit der Tyrannen auf. Er schaut um sich. Die Arbeiter sind tief in ihren Schlaf versunken. Der Himmel ist durch das Strahlen der Sterne so hell, dass auch die Nacht taghell ist. Er geht zum Zelt und holt sich einen Becher Wasser. Vom Dreschplatz her erblickt er die verbrannte Kirche, die mit ihren Ruinen der Zeit standhält, um Zeuge unserer Gegenwart zu werden. Einst war diese Erde von Menschen bewohnt, die einen anderen Glauben hatten und andere Sprachen sprachen und jeden Sonntag die Glocken in der Kirche läuteten.“
(…)
„Der junge Wanderer reist wieder in seine Traumwelt. Dann zeigt sich ihm wieder der weißbärtige Mann und spricht ihn an: „Ich habe eine Botschaft für dich, die du erfüllen sollst. Denn du bist auch besorgt wie ich über die Ereignisse, die hier geschehen. Erzähle der Welt, was hier geschieht, damit die Grausamkeit nicht in der Geschichte verborgen bleibt. Ich weiß es, du wirst es tun. Es ist auch deine Geschichte.“
Die Armenierfrage und Dersim
Dersim war und ist die Heimat der Armenier. Sie waren in der Region verwurzelt, sie waren und sind ein untrennbarer Teil der Region. Es gibt viele Ortschaften wie Vaskovan (heute: Akcapinar), Akrak (heute: Gözlücayir), Oskih oder Oskeg (heute : Pasacik), die heute noch Spuren der armenischen Kultur aufweisen, auch wenn diese Ortschaften zuletzt während der Massaker an den Dersimern in den Jahren 1937/1938 total zerstört und die historischen Gebäude (wie z.B. Kirchen) geplündert wurden. Die Ruinen der armenischen Ortschaften sind Zeitzeugen unserer gemeinsamen Geschichte.
Im Laufe der Islamisierungskriege ab dem 16. Jahrhundert durch die Osmanischen Herrscher und die mit ihnen verbündeten sunnitischen kurdischen Stämme, wie der Stammesführer Serefhan aus der Stadt Bitlis, wurden Außenprovinzen in der Region Dersim, Cimisgezek, Carsancak, Peri und Pertek systematisch belagert und die dort lebenden Armenier und Alewiten immer wieder niedergemetzelt. Sie zogen sich nach und nach in das Innere von Zentraldersim zurück, wo sie bis 1937/1938 in Sicherheit lebten.
Auch nach 1915 kamen viele Armenier aus der Ost- und Südtürkei nach Dersim, um dort Schutz zu finden.
Als ich im Sommer 1974 im Dorf Ulukale in der Provinz Cemisgezek als Vierzehnjähriger bei einem Verwandten meines Vaters bei Arbeiten für die Wasserversorgung mithalf, stellte ich bereits damals fest, dass diese Region einmal armenisch war, aber kein einziger Armenier mehr dort lebte. Das winzige Gebäude, dessen Dach noch intakt war, war die Kirche, in der die Bauern ihre Tiere hielten. Bei den Arbeiten fanden wir bei jedem Meter, den wir aushuben, Spuren der zerstörten armenischen Kultur. Ehemals war dieses Dorf eine große armenische Ortschaft, heute leben dort fast nur sunnitische Türken, die von dem Osmanischen Herrscher dorthin angesiedelt worden waren. In der Region Dersim und in den Außenprovinzen wurden auch einzelne Stammesführer von Dersim dazu gezwungen, sich an der Ermordung der Armenier zu beteiligen. Es werden Geschichten erzählt, dass der eine oder andere Stamm sich daran beteiligt hat.
Wir Dersimer sind Armenier und Alewiten zugleich, denn es gab diese Trennung nicht. Wir lebten zusammen und heirateten untereinander und feierten gemeinsam. Der Patenonkel meines Bruders war ein Armenier (Hüseyin Boga), der zu uns wie ein Vater war. Er blieb bis zu seinem Tod in Dersim, und seine Seele fließt Tag und Nacht im Fluss Munzur, in den er sich verliebte wie alle Dersimer, die sich mit dem Fluss identifizieren. Es war sein Fluss und seine Geschichte. Seine Kinder und Enkelkinder leben heute wie viele andere Dersimer in Frankreich, Deutschland und anderswo auf dieser Erde im Exil, aber nicht in ihrem Herkunftsland Dersim.
In einigen Orten wurden Männer ermordet, die Frauen verschleppt und zwangsverheiratet, damit der Besitz an die Männer ging, die sich durch die Heirat als legitime Besitzer sahen.
Im Gespräch mit einigen Zeitzeugen, die meisten waren aus meiner Verwandtschaft, habe ich eins festgestellt: Dass sie in ihren Erzählungen übereinstimmend das gleiche Leid schilderten. Viele weinten, während sie erzählten. Die Tränen flossen die Wangen der Frauen hinunter, tropften auf die Erde, die für die Tausende von Opfern eine ewige Ruhestätte wurde. (…)
Heute, 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern, wird sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene diskutiert, ob dieser Genozid je stattgefunden hat. Es ist eine Aufgabe der Historiker, diese Frage im historischen Kontext zu erforschen und offenzulegen, was geschah und wie es geschah.
Aber nach Erzählungen meiner Großeltern und von Zeitzeugen aus der Region Dersim hat tatsächlich ein großes Massaker an den Armeniern stattgefunden.
Die Türkei ist aufgefordert, ihre ablehnende Haltung aufzugeben, sich auch diesem Teil ihrer Geschichte zu stellen und sie zu verarbeiten.
(…)
Dieses Gedicht widme ich meinen Brüdern und Schwestern, die durch das Verbrechen an der Menschheit ihr Leben verloren haben oder in fremde Länder fliehen mussten, um ihr Leben zu retten:
Mandelbäume
Wir sind Mandelbäume
verwurzelt tief in der Erde von Dersim,
aus unseren Bäumen sind viele Äste gesprossen,
die sich in den Himmel hineinstrecken, um frei zu sein.
Wir sind Mandelbäume
zerstreut in der Erde von Dersim
blühen wir auf der Hochebene der Munzur-Berge.
Wir sind Geschwister – Kinder einer Mutter
Blühend schmücken wir uns wie die Mandelbäume mit rosaroten Blüten.
Wir sind Mandelbäume, die verschieden sind,
aber den gleichen Duft verströmen und das gleiche Lächeln im Gesicht tragen
Wir sind Geschwister,
die gleiche Brust hat uns genährt wie die Erde Dersims
Wir sind Geschwister,
die ihren Schmerz in ihrem Lachen verbergen, um dem Feind nicht zu zeigen,
dass er uns besiegt hat.
Wir sind Mandelbäume,
die tief in der Erde von Dersim verwurzelt sind,
Wir sind Mandelbäume
wir blühen in die Zukunft hinein, die uns gehört
Wir sind Mandelbäume
Wir singen mit dem Wind unser gemeinsames Lied
Brüderlichkeit in Freiheit, die kein Tyrann von uns wegnimmt.